
Aufnahmen in eines der Flüchtlingscamps
Foto: Enno Lenze
Jetzt, nachdem ich wieder heimatlichen Boden unter meinen Füßen spüre, möchte ich die vergangene Recherchereise zusammenfassen und mein persönliches Fazit daraus ziehen. Der Irak kommt auch nach dem Abzug der alliierten Truppen 2011 nicht zur Ruhe, immer wieder gibt es vor allem in und um Bagdad Bombenanschläge, die zahlreiche Opfer fordern. Der Hintergrund dessen ist so simpel wie verrückt! Sunniten und Schiiten kämpfen gegeneinander und versuchen einen aussichtslosen Machtkampf zu führen. Um im nachfolgenden die aktuelle politische Entwicklung im Zweistromland verstehen zu können, möchte ich zunächst einige Zusammenhänge erklären. Vor allem für Europäer ist es schwer nachvollziehbar, welche radikalen Auswirkungen unterschiedliche Glaubensbekenntnisse in muslimischen Ländern haben können und in welchem Zusammenhang das mit den ISIS- Truppen steht. Die ewige Fehde zwischen Sunniten und Schiiten. Aber wer oder was sind sie, warum sind sie so unterschiedlich und in bestimmten Regionen sogar verfeindet, dass sie gegeneinander kämpfen?
Sunniten
Beide Glaubensrichtungen gehören dem Islam, wobei die Sunniten die Mehrheit der Glaubensgemeinschaft ausmacht. Es gibt bei den Sunniten zwei sehr wesentliche Merkmale, die ihr religiöses Leben und Handeln ausmachen. Zum einen leben sie nach der Tradition des Propheten Mohammed. Er wird im Koran namentlich in verschiedenen Suren genannt, aber nur in einem einzigen (Vers 2 aus Sure 47) Zusammenhang mit dem Empfang der göttlichen Offenbarung. Aber kurz gesagt, wird Mohammed als Gesandter, als der Bote Gottes angesehen. Ein weiteres und ebenso wichtiges Merkmal der sunnitischen Glaubensgemeinschaft ist das festhalten an dem theokratischen Modell des Kalifat. Mohammed werden hier in der Sure 33 mehrere Vorrechte als theokratischer Herrscher in der Gemeinde in Medina eingeräumt, welches bis heute in der Glaubensgemeinschaft ist. Eines der bemerkenswerten Auszüge im Bezug auf Mohammed lassen sich in der Sure 48 (Der Sieg – al Fatah) im Vers 29 finden:
Mohammed ist der Gesandte Gottes, und hart sind seine Leute gegen Leugner, untereinander aber voller Erbarmen. Du siehst sie knien, niederfallen indem sie Gottes Gnade suchen und sein Wohlgefallen. Die Spuren ihres Niederfallen sind ihnen ins Gesicht gezeichnet- Das ist in der Thora ihr Gleichnis, im Evangelium ist Saat ihr Gleichnis, die ihren Sprössling sprießen lässt und stärkt, ihn groß macht und auf seinen Halmen geraderichtet, den Säern zu gefallen und um die Leugner damit zu erzürnen. Verheißen hat Gott denen unter ihnen, die gläubig sind und gute Werke tun, Vergebung und unendlich reichen Lohn.
Schiiten
Die Glaubensgemeinschaft der Schiiten nimmt neben den zuvor genannten den zweitgrößten Teil des Islam ein. Nach dem Tod Mohammeds kann nach ihrer Auffassung nur ein Nachfahre Alis für eine Nachfolge göttlich legitimiert sein. Wie auch aus der Glaubensgemeinschaft der Sunniten entstanden hier weitere Glaubensgemeinschaften, wie der der Aleviten- bekannt durch den syrischen Präsidenten Bashar al- Assad. Die Schiiten vereint der Glaube an der Vormachtstellung des Imam, welches sich zum Kalifat unterscheidet.
ISIS- Islamischer Staat Irak und Syrien
Namentlich handelt es sich hier um eine hervorragend organisierte und ausgebildete dschihadistische und salafistische Gruppe, die ihren Einfluss (wie es der Name schon vorgibt, auf den Irak und Syrien) bezieht. Dennoch sind weitere Einflussgebiete im Nahen Osten zu nennen, hier der Libanon und auch Jordanien. Durch ihr brutales und rücksichtsloses Vorgehen hat sich sogar al- Quaida von ihnen losgesagt und jegliche Unterstützung und Beteiligung untersagt. Wer oder was sind die ISIS, oder im arabischen auch „Daaisch“ gennant? Es handelt sich hierbei um eine Organisation, die ihre Wurzeln im Norden Saudi Arabiens hat, nördlich von Hedschas. Ihr bestreben ist es, als streng Gläubige Sunniten ein Großsyrien nach der Lehre Mohammeds- einen Kalifatstaat einzurichten.
Der Nahe Osten ist eine Region, die sich vielen Lesern und Interessierten als Krisen- oder Kriegsgebiet im Gehirn festgebrannt hat. Warum? Was ist der Nahe Osten und warum ist das so? Mich erreichen immer wieder diese Fragen, die ich zwischen den U- und S- Bahnstationen in Hamburg nicht beantworten kann. Der Irak, reich an Erdöl war schon zweimal im Fokus der US- amerikanischen Regierung. Erst beim zweiten Mal ist es den alliierten Truppen gelungen, das Regime um Saddam Hussein zu stürzen. Aber seit dem Beginn der Invasion 2003 bis zum heutigen Tag hat sich am Bild des Landes nicht viel verändert. Krieg und Terror sind auch noch heute ein Synonym für den Irak. Aber warum? Die US- Amerikaner sind verschwunden, waren sie zunächst Befreier, dann verhasste Besatzer. Sie haben Demokratie versprochen, doch lassen sich andere Beweggründe für diese radikale Intervention finden. Saddam Hussein, Anhänger der sunnitischen Glaubensgemeinschaft, unterdrückte während seiner diktatorischen Herrschaft die Schiiten im Land. Hier darf der Giftgasangriff am 16. März 1988 auf das kleine Städtchen Halabja im Norden des Irak nicht unerwähnt bleiben. Tausende Menschen starben einen qualvollen Tod, der bis zur Hinrichtung von Saddam Hussein am 30. Dezember 2006 ungesühnt blieb. Die Unterdrückung der Schiiten im Land und die Vormachtstellung der Sunniten im Nahen Osten ließen über viele Jahre hinweg ein radikales Potential der Gewalt entstehen, welches sich seit mehr als fünf Jahren in einer schier unaufhaltsamen Gewaltspirale zu entladen scheint. Diese scheinbar nicht nachvollziehbare Fehde lässt sich in nahezu allen Ländern wiederfinden. Sie nennen sich Hamas, Hesbollah, al- Nusra Front, al- Quaida, Salafisten, Muslimbrüderschaft oder ISIS und sie scheinen unaufhaltsam nach Macht und Einfluss zu streben. Ihr Vorgehen ist meist sehr radikal und kompromisslos, schwierig sind dabei die unterschiedlichen Auslegungen der Suren im Koran. Das langfristige Ziel der ISIS ist die Errichtung eines islamischen Staates, aber der Weg dorthin führt über eine weitere Destabilisierung des Irak und Syriens. Hierzu gehört es auch, die Erdölvorkommen und Raffinerien zu kontrollieren und daraus das benötigte Geld zu generieren.
Welche Rolle nimmt der Norden des Irak ein, befinden sich dort vor allem große Erdölreserven, die diese Region sehr reicht gemacht hat. In den irakischen Provinzen Arbil, Sulaymania, Kirkuk und Dohuk leben knapp 5 Mio. Kurden, die zu einem Großteil Sunniten oder Aleviten sind. Diese Provinzen sind während der Herrschaft Saddam Husseins entstanden und haben heute eine eigene Verwaltung mit Sitz in Arbil (oder auch Erbil genannt). Es ist eine autonome Region, mit eigenen Gesetzen und Richtlinien, international nicht als eigenständiges Land anerkannt. In diesem Prozess der Autonomie und Eigenständigkeit und während der Dauer des arabischen Frühlings stehen auch die Kurden auf dem Banner der Geschichte. Bagdad liegt längst geschwächt am Boden und der regierende Ministerpräsident Maliki hat das Land noch weiter demontiert, als es nach dem Truppenabzug der Amerikaner schon war. Anfang Juni drangen knapp 800 Kämpfer der ISIS bis nach Mosul vor und ungefähr 30.000 irakische Soldaten desertierten. Insgesamt spricht man davon, dass sich ca. 140.000 irakische Soldaten von ihren Stellungen entfernt haben. Diese Größenordnung entspricht sechs Divisionen. Zum Vergleich ist die Bundeswehr aktuell gerade einmal 183.600 Mann stark. Diese Soldaten flohen und ließen zu einem großen Teil neues amerikanischen Militärgerät zurück.
Aber nicht nur irakische Soldaten sind auf der Flucht vor dem Terror der ISIS, auch die Zivilbevölkerung hat Angst vor der radikalen Gruppe. Knapp eine Millionen Menschen suchen vor allem im Norden des Irak Schutz. Zahlreiche neue Flüchtlingscamps wurden durch UNHCR eingerichtet und betreut. In der irakische
Autonomieregion Kurdistan leben neben irakischen Flüchtlingen auch insgesamt 200.000 syrische Kriegsflüchtlinge.Viele der Camps befinden sich in den Regionen um Arbil, Domiz, Dohuk, Kirkuk und Mosul. Viele der internationalen Flüchtlingshilfswerke sind neben der UN hier aktiv und betreuen die Menschen so gut es geht. Einige Camps wurden während meiner Reise neu aufgebaut bzw. erweitert, denn der Strom der Schutz suchenden nimmt nicht ab. Unter den Flüchtlingen sind vor allem Kinder, die nicht dem Alter gerecht betreut werden können. Zwar erhalten einige von ihnen in den älteren Flüchtlingscamps Unterricht, doch sind da die Kapazitätsgrenzen bei einer Altersgruppe bis 12 Jahren erreicht. Die Älteren Kinder und Jugendlichen können hier kein höheres Bildungsniveau erhalten und bleiben langfristig gesehen zum Beispiel bei der Berufswahl oder Studium auf der Strecke. Was man ihnen und den Erwachsenen im Gegensatz zu den Flüchtlingen in Deutschland zugesteht ist, dass sie sich außerhalb des Camps Arbeit suchen dürfen, um die Familien finanziell etwas zu unterstützen.
Was aber macht den Norden so stark? Zum einen ist es natürlich das Öl, denn diese Reserven sind in dieser Region des Irak längst nicht vollständig erschlossen. Mit diesem Reichtum an Rohstoffen kommen auch internationale Investoren, die dem Aufbau der Region dienen. Unter anderem ist der russische Gas- Konzern GASPROM aktiv, aber auch englische Investoren der Bauindustrie, die vor allem in der Hauptstadt der Autonomieregion in Arbil große Bauprojekte übernommen haben. Internationale Beziehungen wurden aufgebaut, so zum Beispiel wird das Rohöl in die Türkei transportiert, um dort aufzubereiten und wieder zurück in den Nordirak zu transportieren. Aber auch Israel ist der Nutznießer des erdölreichen Landes, denn die ersten vier Schiffsladungen an Rohöl wurden schon ausgeliefert. Bagdadselbst verbietet den Export an Israel und in der Knesset dementiert man es und verweigert die Auskunft über Ölimporte. Darüber hinaus spielen die Peschmerga („Die dem Tod ins Auge sehenden“) eine nicht ganz unwesentliche Rolle in dem von Kurden bevölkerten Teil des Irak. Sie sind bewaffnete Truppen, die ihre Wurzeln bis in die Zeit des Osmanischen Reiches haben. Mehrfach aktiv und in Kämpfe eingebunden waren sie schon ab 1961. Nach den Golfkriegen hielten sie immer wieder die kurdischen Gebiete besetzt und erst nach dem Sturz von Saddam Hussein bekamen sie einen offiziellen Status und wurden seitdem auch immer wieder durch die USA unterstützt und ausgerüstet. Seit mehreren Wochen beweisen sie immer wieder ihre Disziplin und Schlagkraft im Kampf gegen die radikalen ISIS- Truppen. Bei Kämpfen um Kirkuk, Mosul, der iranischen und vor allem auch der syrischen Grenzgebiete müssen zwar immer wieder Verluste hingenommen werden, doch haben sie bislang keine der erkämpften Gebiete wieder verloren. „Sie kämpfen nicht wie Soldaten Face-to-face, sondern bauen Autobomben oder IEDs“, erzählt mir im Gespräch einer der Offiziere, der mit seiner Gruppe gerade erst aus eines der umkämpften syrischen Gebiete zurückkehrte. Ein Tag später verlor diese Gruppe sechs Peschmergas durch einen Anschlag der ISIS. Sie haben ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung und werden in Gesprächen immer wieder voller Stolz genannt. Nirgendwo anders habe ich bislang diese Bindung erlebt, denn ihr Auftreten ist voller Respekt und Hingabe dem eigenen Volk gegenüber.
Es ist die Zeit gekommen, nicht morgen und auch nicht übermorgen, um sich die internationale Anerkennung zu holen und ein freies und eigenständiges Kurdistan zu gründen. Die Voraussetzungen sind längst geschaffen worden, hat man doch die Zeit während der militärischen Invasion im Irak. Bagdad und Washington sind sich darüber aber längst nicht einig, aber ein geschwächter Maliki, eine desolate Infrastruktur, eine desertierende irakische Armee stehen hier in einem Gegensatz zu dem, was sich im Norden des Landes zeigt. Es wäre ein Zeichen über die Grenzen hinaus, auch im Hinblick auf den nicht enden wollenden Konflikt zwischen Juden und Palästinensern. Souveränität und Anerkennung sollte der Maßstab sein, um sich zukünftig nicht den Rücken zuzukehren, sondern mit ausgestreckter Hand gegenüber zu stehen. Allerdings bin ich skeptisch, denn neben den bilateralen Beziehungen zur kurdischen Region gibt es auch Interessen, alles so zu belassen wie es derzeit ist. Alles hängt am seidenen Faden und am Wohlwollen der USA. Öl kann einiges bewirken, auch das Lächeln eines ungeliebten Freundes.