Ich beobachte seit einigen Jahren die Entwicklungen in Europa, möglicherweise nicht anders als viele andere von euch auch. Spannend war bisher eigentlich immer, wie die politisch Verantwortlichen in Brüssel immer wieder auf die innen- und außenpolitischen Geschicke der Türkei reagierten. Der Bosporus gehört zu Europa, ja, ABER… Ankara musste sich viel anhören, natürlich oftmals auch zurecht. Wie der türkische Präsident inzwischen sehr unverhohlen mit seinen BürgerInnen umgeht, haben wir nach dem misslungenen Putschversuch im Juli 2016 mehrfach medial miterleben dürfen. Er wirft Brüssel und der Bundesregierung vor, man würde sich unverhältnismäßig in die nationalen Belange des Landes einmischen.
Szenenwechsel: Ungarn 2015. Regierungschef Orbán ließ vermelden, dass das Land dem Flüchtlingsstrom nicht mehr Herr werden kann. Er kündigt zugleich an, einen Grenzzaun zu Serbien bauen zu lassen, der illegale Grenzübertritte verhindern soll. Frontex meldete zu diesem Zeitpunkt mehr als 100.000 illegale Grenzübertritte, die auch dadurch begründet wurden, dass die Zustände in den Erstaufnahme-Camps zunehmend schlechter wurden. Neben den hygienischen Zuständen wurde auch immer mehr darüber gesprochen, dass es kaum noch zu einer ausreichenden Verpflegung der Flüchtenden kam. Orbán kündigte später an, alles dafür zu tun, um dem Flüchtlingsstrom entschieden entgegen zu treten. Seine nationalistische Haltung führte in Ungarn zwar zu einer Gegenwehr, die aber eher wenig entgegen halten konnte. Ungarn zeigt Brüssel die Faust und propagiert eine entschlossene nationale Haltung – mit Erfolg im Land.
Szenenwechsel: Österreich 2016. In diesem Jahr verabschiedete das Wiener Parlament eine umstrittene Gesetzesnovelle, die es der Regierung erlaubt, mit einer Notverordnung auf den Zuzug von Flüchtlingen zu reagieren. Laut Verordnung dürfen Flüchtlinge keine Asylanträge mehr an der Grenze stellen; sie werden umgehend abgewiesen. Ende Mai 2016 verstärkte man die Polizeipräsenz am Brennerpass um zusätzliche Beamte, nachdem vermehrt von Flüchtlingsgruppen berichtet wurde, die sich von Italien kommend Zutritt nach Österreich verschafften. Am 28. März 2017 wandte sich Kanzler Kern an Kommissionspräsident Juncker um Österreich von der Umverteilung der Flüchtlinge aus Griechenland und Italien abzumelden. Kern verwies darauf, dass sich im vorgesehenen Zeitraum bereits zahlreiche Flüchtlinge, aus diesen beiden Ländern, kommend Zutritt nach Österreich verschafft und dort Asylanträge gestellt hätten, ohne dass diese Zahlen bei der Zuweisung von Flüchtlingen über das Umverteilungsprogramm der EU berücksichtigt worden seien. Neben der sozialen SPÖ steht die FPÖ als rechte Kraft bei der im Oktober 2017 bevorstehenden Nationalratswahl auf dem Podium. Sie propagieren nationalistische Inhalte und sind offene Gegner des EU-Türkei Deals, bei dem die europäische Union Millionen Euro an die Türkei zahlt, damit diese die Grenzen stärker kontrolliert, um dem Flüchtlingsstrom entgegen zu treten. Österreich ist derzeit gespalten, denn das europäische Binnenland fühlt sich von Brüssel allein gelassen und diskutiert unterdessen sehr stark darüber, wie man sich souveräner gegenüber Brüssel zu verhalten hat. Szenenwechsel: Polen 2015. Das Land gilt gemeinhin als christlich-konservativ, doch im Zuge der Flüchtlingskrise kann man wohl eher festhalten, dass sich die Polen eher als Rassisten verhalten haben. Denn erst nach Drängen aus Brüssel sagte Warschau zu, 7.000 Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen zu wollen. Zuvor hatte das Land zähneknirschend zugestimmt, christliche Flüchtlinge aus den arabischen Kriegsgebieten aufzunehmen. Innen- und außenpolitisch wird dieser Kurs durch die Ministerpräsidentin Szydło vorangetrieben. Sie widerruft nach den Terroranschlägen in Brüssel die im Herbst 2015 getroffene Zusage öffentlich in einem Interview gegenüber dem Fernsehsender Superstacja. Polen zeigt Brüssel seine nationale Haltung sehr deutlich und bleibt bis heute bei seiner politischen Haltung.
Szenenwechsel: Tschechien 2015. Die tschechische Regierung lehnte eine verpflichtende Aufnahmequoten für Asylbewerber strickt ab. Man erklärte sich 2015 jedoch bereit, 150 Iraker christlichen Glaubens aufzunehmen. Nachdem sich jedoch 25 Personen aus dieser Gruppe im März 2016 aus Tschechien nach Deutschland abgesetzt hatten, um dort Asyl zu beantragen, stellte die Regierung das Projekt ein. Man wolle sich nicht am „Reiseservice“ für Migranten beteiligen. Auch heute hält die Regierung daran fest und spaltet damit die europäische Haltung, sich humanitär zu verpflichten.
Szenenwechsel: Dänemark 2015. Das deutsche Grenzland hat in den letzten Jahren seine Einwanderungspolitik immer weiter verschärft und heute gilt die dänische Einwanderungsgesetzgebung als eine der restriktivsten in Europa. Die Flüchtlingskrise war vor der Parlamentswahl im Juni 2015 ein in Dänemark vieldiskutiertes Thema. Nach der Wahl bildete die rechtsliberale Venstre-Partei eine Minderheitsregierung und verschärfte das dänische Asylrecht weiter. Unter anderem wurden die Sozialleistungen für Flüchtlinge annähernd halbiert. Im Sommer 2015 wurden Anzeigen in Zeitungen des Libanon geschaltet, in denen über die Asylrechtsverschärfungen informiert wurde. Im November 2015 wurden Pläne bekannt, die Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten auch im Winter nicht zu beenden. Im Dezember 2015 beschloss das dänische Parlament, Flüchtlingen mitgeführtes Bargeld bis auf einen Selbstbehalt von etwa 350 Euro abzunehmen und die Mittel für ihre Unterbringung und Versorgung zu verwenden. Am 26. Januar 2016 verschärfte das dänische Parlament die Asylregeln um einen erschwerten Familiennachzug und um eine Befristung der Aufenthaltsgenehmigung und legte den Selbstbehalt auf 10.000 Kronen (etwa 1340 Euro) fest. Dänemark führte 2017 verschärfte Grenzkontrollen zu Deutschland durch, entgegen dem Schengener-Abkommen aus dem Jahr 2016.
Szenenwechsel: England 2016. Am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 Prozent der britischen Wähler für einen Austritt des Vereinigten Königreichs für einen Austritt aus der Europäischen Union. Das erste Land des vereinigten Gedankens Europas, welches seine hundertprozentige Selbstbestimmung zurückerlangen möchte. Kurz zuvor hatte Schottland über ein gescheitertes Referendum versucht, sich vom Königreich zu lösen. Es scheiterte und hätte weitreichende wirtschaftliche Folgen für London gehabt. Der Brexit war zudem ein Zeichen an alle EU-Mitgliedsstaaten, die an ihrem nationalen Gedanken hängen.
Szenenwechsel: Spanien 2017. Die iberische Halbinsel macht in den vergangenen Tagen lautstark Schlagzeilen, hierbei geht es aber nicht um Spanien. Hand aufs Herz, wer wusste, dass es schon seit vielen Jahren zu einem internen Konflikt zwischen den Katalanen und Spaniern kommt? Katalonien ist eine Region im Norden der spanischen Halbinsel, getrennt durch die Pyrenäen, grenzt Katalonien an Frankreich und Andorra, im Westen an die autonome Region Aragonien und im Südwesten an die Region Valencia. Jüngst versuchen katalanische Separatisten in Barcelona eine Unabhängigkeit herbeizuführen, obwohl 1978 mehrheitlich auch Katalanen dem spanischen Grundgesetz zugestimmt haben. Eine Abspaltung von der Madrider Regierung sei somit unmöglich, ähnlich einer Unabhängigkeit deutscher Bundesländer.
Was bedeutet es für Europa, wenn sich Mitgliedsstaaten national und unabhängig gegenüber Brüssel verhalten? Hat es möglicherweise Konsequenzen für andere Staaten, die sich mit einem ähnlichen Gedanken tragen, dem europäischen Gedanken den Rücken zu kehren? Stimmen aus Wirtschaft und Finanzen zufolge sei es wirtschaftlich nicht tragbar für das jeweilige Land, da bestehende Verträge mit einer Freihandelszone ihre Gültigkeit verlieren würden.
Was bedeutet Souveränität?
- Selbstbestimmung der politischen Kultur eines Landes
- Selbstbestimmung über die staatliche Gestaltung eines Landes
- innere und äußere Selbstbestimmung
- Legitimität wirtschaftlicher und finanzieller Selbstverwaltung
Was bedeutet Nationalität?
- unterscheidet zwischen Angehörigkeit zu einem Land oder Ethnie
- bei Konflikten zählt die ethnische Herkunft
- bei Gemeinsamkeiten (z.B. Fußball oder anderen großen Sportereignissen) genügt die geografische Herkunft
Fazit? Ich weiß dass ihr an dieser Stelle eine Antwort erwartet und ich sie möglicherweise nicht befriedigend liefern kann. Eigentlich muss zunächst jeder selbst in sich gehen und sich fragen, ob er sich mit dem europäischen Gedanken identifiziert. Ist es in Ordnung, dass politische Entscheidungen getroffen werden, von Menschen die ich nicht kenne? Entscheidungen, die möglicherweise Montenegro oder Bulgarien zu Gute kommen, aber für Deutschland wenige relevant sind. Apropos Parlamentarier: Wer kennt seine europäischen Vertreter? Genau, da sind wir schon bei der Frage nach der Identität. Egal mit wem ich eine Diskussion eingehe, niemand kennt seine politischen Vertreter in Brüssel, sollte man doch auch dort seine Stimme abgeben und die politischen Entscheidungen mittragen?! Europa ist also nach wie vor ein Konstrukt, welches für viele nur Geld kostet, als Abstellgleis für lokale Politiker gilt, die letztlich nur Kosten produzieren und unsinnige Beschlüsse fassen. Nur zusammen sind wir stark. Na ja, der Slogan passt doch auch nur national, denn nur wir Deutschen wissen, was wir wollen, ebenso denkt der Pole, Ungar oder Tscheche. Was ist also die bindende Errungenschaft, die wir nicht missen möchten? Natürlich: Offene Grenzen und eine einheitliche Währung machen ein Miteinander einfacher, doch ist der europäische Gedanke ein weitaus größerer. Die Katalanen provozieren jüngst das europäische Parlament, stellt aber zugleich die Frage offen, ob eine nationale Identität nicht in den europäischen Gedanken Platz findet. Europa JA, aber nur, wenn Brüssel alles bestimmt? Oder wie viel darf hier Madrid bestimmen? Was passiert jetzt mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit? Ich habe leider keine Musterlösung für euch, denn die Interessen und Fragen sind so mannigfaltig, wie die Kulturen es der einzelnen Mitgliedsstaaten sind. Vielleicht sollten wir uns über Individualität unterhalten, statt Nationalität zu verfluchen.
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