Ein Zweckbündnis mit einer autoritären Erdogan-Regierung verschärft die humanitäre Notlage in Syrien
Kann ein Deal mit dem türkischen Ministerpräsidenten, dem Oppositionelle im eigenen Land vorwerfen gerade einen „Palastputsch“ durchzuführen, die größte humanitäre Katastrophe nach dem 2. Weltkrieg, die sich gerade in Syrien und Irak abspielt, lindern? „Das Schicksal der Millionen Flüchtlinge‘“, so Martin Glasenapp, von medico-international, „steht leider nicht im Mittelpunkt der geostrategischen Überlegungen, die ein Ende des Friedensprozesses in der Türkei dulden.“ Vielmehr handele es sich um den Versuch, das Problem des IS militärisch zu lösen, um den Preis der Duldung zunehmend autoritärer Regime wie jetzt in der Türkei, so Glasenapp. „Die Missachtung der Menschenrechte und der Demokratie wird auf Dauer das Problem vor Ort verschärfen“, so der medico-Referent.
Die Situation der Flüchtlinge ist nahezu unerträglich geworden
Die Auswirkungen für die yezidischen und kurdischen Bewohner und Flüchtlinge, die sich in der von der Türkei bombardierten Zone aufhalten, sind beträchtlich. Denn offensichtlich will die türkische Regierung weitere kurdische militärische Erfolge verhindern. Zeitgleich mit der dritten Angriffswelle der türkischen Luftwaffe auf Camps der PKK entlang der türkisch-irakischen Grenze am letzten Wochenende befreiten PKK-Einheiten zusammen mit yezidischen Selbstverteidigungsgruppen die Kleinstadt Bara westlich vom Shingal-Gebirge von IS-Terroristen. Gleiches gilt auch für Syrien. Zeitgleich mit dem Beschuss von Grenzposten kurdischer YPG-Einheiten und arabischer FSA-Gruppen durch die türkische Artillerie westlich von Kobane, konnten beide Gruppen mit US-amerikanischer Luftunterstützung den IS aus der arabischen Kleinstadt Sarrin östlich des Euphrat in Zentralsyrien vertreiben. Das syrisch-kurdische Kobane wurde sofort nach dem Anschlag von Suruc seitens der Türkei mit einer militärischen Abriegelung der türkischen Grenze nach Rojava versehen, obwohl der mutmaßliche IS-Attentäter nicht aus Syrien, sondern aus der IS-Hochburg Adiyaman in der Südwest-Türkei kam. Zudem sind Helfer, mit denen auch medico zusammenarbeitet, um Hilfsgüter nach Kobane zu bringen, akut von der politischen Verfolgungswelle in der Türkei bedroht. Die Pläne der türkischen Regierung, anderthalb Millionen Flüchtlinge in eine von ihr kontrollierte Zone in Syrien zu verlagern, spricht zudem Bände, „wie die Lösung des Flüchtlingsproblems in einer autoritären Ordnung aussehen soll“, so Glasenapp. Es gehe nicht an, dass Europa und Deutschland dabei stillschweigend zuschauen, in der Hoffnung, so das auf Dauer gestellte Flüchtlingsproblem zu lösen, kritisiert der medico-Nahostreferent. Viele internationale Hilfsorganisationen versuchen seit mehr als drei Jahren mit lokalen Partnern die syrische und kurdische Demokratiebewegung zu unterstützen. Sie versorgen Flüchtlinge im Libanon und in Syrien mit humanitärer Hilfe und beteiligen sich an dem sozialmedizinischen Wiederaufbau in Kobane.
Der türkisch-kurdische „Friedensprozess“ war unlängst gescheitert
Den ohnehin nur noch auf dem Papier bestehenden „Friedensprozess“ mit der PKK kündigte Erdoğan nicht erst gestern auf, sondern spätestens mit der verweigerten Anteilnahme für die 32 Opfer des Terroranschlages in Suruç vom 20. Juli. Fast die gesamte AKP-Führung spuckte den Opfern und ihren Angehörigen förmlich ins Gesicht, als sie ihnen jede öffentliche Anteilnahme, jede angemessene Würdigung und auch jeden politischen Respekt versagte. Die Opfer von Suruç waren jung, viele von ihnen Studenten. Sie waren Kurdinnen oder Alevitinnen und sie waren links – sie galten als „die Kinder des Gezi-Parks“, wie eine Überlebende des Massakers sagte. Sie wollten im kurdischen Kobane in Syrien helfen, einen Kinderpark aufzubauen und einen Wald der „Solidarität“ zu pflanzen. Hier liegt die Scheidelinie zwischen dem neuen religiösen Autoritarismus und der Möglichkeit einer demokratischen Zukunft in der Türkei. Nicht zufällig ist diese Hoffnung mit dem Beispiel Kobane verbunden, nicht zufällig ist diese Perspektive eine grenzüberschreitende.