Der französische Aufklärer und Philosoph Jean-Jacques Rousseau behauptete, die Kultur und Gesellschaft hätten den Menschen nicht besser, sondern schlechter gemacht. Er war davon überzeugt, dass das Böse erst mit der Vergesellschaftung begann. Erst in der Gesellschaft hassen sich die Menschen, betrügen einander und trachten sich gegenseitig nach dem Leben. Die Vernunft zeigt dem Menschen nicht das Gute, sondern was für ihn vorteilhaft ist. Der englische Biologe Thomas Henry Huxley widersprach Rousseau 1893 in seinem Vortrag „Evolution und Ethik“ und vertrat die Meinung, der Mensch müsse durch die Zivilisation gebändigt werden. Das hatte bereits Thomas Hobbes gelehrt. Ihm zufolge ist der Mensch im Naturzustand des Menschen Wolf. Immanuel Kant ging davon aus, dass uns die Vernunft sagt, was wir zu tun haben und dass wir verpflichtet sind, gut zu sein. Arthur Schopenhauer widersprach Kant: Nicht die Vernunft, sondern der Wille bestimme das menschliche Tun. Der Sprung aus der Zeit der Aufklärung in das 21. Jahrhundert lässt all diese Fragen philosophischer Natur wieder aufleben und uns zu den Ereignissen der vergangenen Monate wieder zu der Frage kommen: Was soll ich tun?
Bei Themen, bei denen es um Verfolgung, Tod und Terror geht, ist sich die Gesellschaft einig und verurteilt selbiges. Die politischen Interessen hingegen führen zu mehr Uneinigkeit denn je. Willkommenskultur: Ja oder Nein? Schnell kommt es hier zu einem unterschwelligen political correctness, deren Aufdringlichkeit zu einem noch größeren Zerwürfnis führt. Der Politikwissenschaftler und Soziologe Elmar Wiesendahl beschreibt diesen Druck zur Verschwiegenheit aus dem Lager der politischen Mitte.Ihr libertär-humanistisches Denken, welches voller Inbrunst die Willkommenskultur vertritt, lässt eine offene Debatte nicht zu. Deutschland als Motor des europäischen Gedankens wird derzeit immer stärker von Ländern umringt, deren politische Kultur sich radikal zu ändern scheint. Immer deutlicher werden völkische und zum Teil auch fremdenfeindliche Interessen, die auch bei uns zu einem Umdenken führt. Die deutsche Parteienlandschaft wandelt sich und Wiesendahl unterteilt sie in drei Gruppen ein. Als erste nennt er die libertär-humanistische, die zu einer zivil-religiösen Gesinnungsethik neigt. Die Verfechtung höchster moralischer Werte wie Menschlichkeit und Barmherzigkeit stehen bei ihnen an erster Stelle. Die zweite Ausrichtung ist die pragmatische Mitte. Es sind die Fragesteller, die offen diskutieren und keine Angst vor ihrer Positionierung haben. Sie stellen Fragen, weshalb sich Deutschland mit über einer Millionen Flüchtlinge auseinandersetzen muss. Was kostet es die Gesellschaft und welche Folgen hat die Willkommenskultur? Allerdings ist die pragmatische Mitte ergebnisoffen und lässt sich auch überzeugen. In die dritte Gruppe lassen sich die traditionalistisch-verängstigten einordnen. Ihre übervorsichtige und ängstliche Art besitzt allerdings keine klaren Grenzen. Ihre Wertehaltung tendiert zu einer völkisch- fremdenfeindlichen Identität, welche sie durch kulturelle Überfremdung infrage gestellt sieht. Dieser kulturelle Richtungskonflikt wird immer deutlicher.
PEGIDA und deren Ableger, sowie die politische Ausrichtung der AfD machen deutlich, wie sich Debatten zu einem polarisierenden Instrument verwandeln lassen und zu mehr Verunsicherung in der Gesellschaft führt. Politisch gespalten ist das Land deshalb noch nicht, daran halte ich auch persönlich fest. Auch wenn die Politik selbst in einer katastrophalen Lage steckt und sich durch ihr Verhalten sowohl innerhalb Deutschlands, als auch über die Grenzen hinweg in eine nahezu aussichtslose Lage gebracht hat. Alle oppositionellen Parteien im Bundestag vertreten ein und den selben humanitären, dem Pro-Flüchtlings Konsenz. Auch andere gesellschaftliche Kräfte wie die Kirchen vertreten selbiges, ohne innerhalb von ergebnisorientierten Debatten an Lösungen zu arbeiten. Es kommt also wieder zur Frage hinter vorgehaltener Hand: Was soll ich tun? Auf bundespolitischer Ebene wird es daher bei der kommenden Wahl zu einem verschobenen Ergebnis kommen. Lässt die Politik gerade jetzt vor allem diejenigen im Stich, die nach Antworten suchen, wird sich das im Wahlergebnis deutlich zeigen. Deren Verunsicherung machen sich Kräfte wie PEGIDA & Co. zu nutze, da sie versuchen mit Zahlen zu polarisieren. Wie es weiter gehen wird bleibt offen, da sich jeder selbst die Frage stellen muss, auf welcher Seite er steht. Diskussionen müssen zugelassen werden, denn hierbei ist die Angst, politisch nicht korrekt zu antworten, falsch. Dies beinhaltet aber auch, sich offen gegen Hass und Diskriminierung aussprechen zu dürfen, ohne selbst Angst vor Repressalien haben zu müssen. Noelle-Neumanns Theorie zur Schweigespirale macht es gerade jetzt wieder sehr deutlich, dass Menschen, die zunehmend Hemmungen haben ihre Meinungen öffentlich zu vertreten. Wir müssen zurückkehren zu einer intellektuellen Debattenkultur, denn es geht mehr denn je um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Wertegesellschaft.
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