Es ist Sommer, als wir mit einer Transportmaschine der US- Luftwaffe auf dem Flughafen in Kabul landen. Als sich die Türen öffnen, werden wir fast von der Hitze, die uns entgegen kommt, erschlagen. Der Aufenthalt im Süden des Landes hält aber nicht lange an und der Flug geht für einige von uns weiter in den Norden, nach Mazar-e-Sharif, Kunduz oder Feizabad. Die letzten beiden Feldlager gibt es inzwischen nicht mehr unter der Führung der Bundeswehr, sie wurden im Rahmen des geplanten Truppenabzuges an die afghanische Armee übergeben.
Als dann einige Stunden später die Transportmaschine der Bundeswehr, die inzwischen betagte und 40 Jahre alte Transall auf dem provisorischen Flugfeld südlich der Stadt Mazar-e-Sharif landete, war die Hitze noch unerträglicher. Niemand wusste im Detail was uns erwarten würde, vor allem wie unsere Arbeit vor Ort sein wird. Das Feldlager selbst war noch im Aufbau, nur einige feste Unterkünfte standen schon, der Rest befand sich ausschließlich in Zelten. Überall nur Sand und Staub und die Klimaanlagen röchelten, als wären es die letzten Stunden. Nicht selten kam es vor, dass eine von den Dingern im Zelt schlapp machte, dann stieg die Temperatur innerhalb kürzester Zeit auf über 70 Grad.
Um unsere Arbeit außerhalb des Feldlagers durchführen zu können, hatten wir drei afghanische Dolmetscher in der Kompanie. Zwei von ihnen waren Mitte 20, der ältere von ihnen trug einen Bart und war angeblich Geschichtsprofessor aus Kabul. Die beiden jungen hielten sich immer von ihm fern, mieden seine Nähe und verließen auch das Zelt, wenn er es betrat. Einer von den beiden hieß Gul und hatte ein Holzbein. Er erzählte uns seine Geschichte, wie er mit Freunden unterwegs war und auf eine der zahllos im Land verstreuten russischen Anti- Personen Minen trat und dadurch sein Bein verlor. Er erzählte es, als wäre es eine Geschichte, die man im Vorbeigehen wiedergibt. In den Monaten, in denen wir in Afghanistan stationiert waren, kamen wir uns mit unseren Dolmetschern immer ein Stück näher. Gul´s Freund Salik zum Beispiel hatte während unserer Zeit dort begonnen, in der Nähe von Kabul ein Haus für sich und seine Familie zu bauen. Doch jedes Mal wenn er aus dem Süden wieder ins Feldlager kam, schimpfte und fluchte er. Sein eigener Bruder stahl ihm in seiner Abwesenheit immer wieder Baumaterial oder trug einfach die Steine ab, die Salik zuvor mühselig organisiert hat. Er kann sich ja immer wieder neues kaufen, er würde ja so viel Geld bei der NATO verdienen, warf ihm sein Bruder vor. Wir bestellten ihm sogar über einen deutschen Onlineversand eine kleine Solaranlage, die er dann mit einer Autobatterie betreiben konnte.
Gul versuchte es immer zu vermeiden, sich in der Nähe der Bundeswehr zu zeigen, aus Angst erkannt und dann getötet zu werden. So kam es bei einem Einsatz in Mazar-e-Sharif, bei dem das Krankenhaus in der Stadt brannte, zu einem Vorfall, der mich persönlich betroffen machte. Wie bei jedem anderen Einsatz auch, wurde einer der Dolmetscher mitgenommen. Die Menschen waren an dem Tag sehr aufgebracht und warfen der Bundeswehr vor, sie hätten das Feuer im Krankenhaus gelegt. Viele von ihnen versuchten durch die Absperrung zu kommen, um ihre verstorbenen Angehörigen zu bergen. Gul, der sich immer zwischen uns und der Afghanen bewegte, um zu vermitteln und ihr Anliegen weiter zu tragen, versteckte sich plötzlich in einem der gepanzerten Geländewagen. Mehrere Afghanen hätten ihm gegenüber Morddrohungen ausgesprochen und er hat Angst um sein Leben. Wenig später wurden auch an zwei Stellen der Stadt geschossen. Einmal in dem Kreisverkehr, der die Route 5 mit der Stadt im Süden verbindet und unmittelbar an einem Checkpoint, der den Zugang zum Krankenhaus sicherte.
Wenige Wochen später kam es direkt am Feldlager zu einem bis heute durch die Bundeswehr verschwiegenen Vorfall. Durch die kroatische Wache wurde ein verdächtiges Fahrzeug unmittelbar am Zugang zum Feldlager gemeldet. Die OPZ (Operationszentrale) alarmierte neben uns auch den EOD, den Kampfmittelräumdienst. Bis heute können wir nur von Glück reden, dass der Sprengsatz, der sich am Fahrzeug befand, nicht gezündet werden konnte, während wir den Zugriff am Auto durchführten und die Insassen festnahmen. Die Sprengstoffspürhunde des EOD schlugen beide unabhängig voneinander an und später konnte der Sprengsatz umgesetzt, also gezündet werden. Nach vielen Stunden des Verhör, an dem unsere Dolmetscher eine ganz wesentliche Rolle einnahmen, wurden die Insassen des Fahrzeugs an den afghanischen Geheimdienst übergeben. Wir alle gingen nach dem Schock davon aus, dass die vermeintlichen Attentäter ihrer gerechten Strafe zugeführt und verurteilt werden. Doch es kam anders. Salik, der wieder einmal ein verlängertes Wochenende in der Nähe von Kabul bei seiner Familie war, sprach ganz aufgeregt mit Gul. Erst auf drängen erklärte er uns was los war. Die Männer, die wir aus dem Fahrzeug mit dem Sprengsatz festgenommen und verhört hatten, liefen frei und munter in Kabul über den Marktplatz. Salik musste sich aus Angst, erkannt zu werden, dort verstecken. Er hat nicht nur Angst um sich, sondern auch um das seiner Familie.
Inzwischen sind einige von den ehemaligen afghanischen Dolmetschern in Deutschland und haben Asyl beantragt. Einer von Gul´s Freunden wurde mit seinem Antrag aufgenommen, Gul nicht! Die Berliner Zeitung erzählt die Geschichte von Nagibulla, Gul´s Freund und schreibt, dass Nagibulla mit ihm in den vergangenen Tagen telefoniert hat. Es seien sechs Männer erschossen worden, die auch für die Bundeswehr gearbeitet haben. Diese Erlebnisse schienen längst vergessen zu sein, doch werden sie immer ein Teil des Lebens bleiben. Das der Soldaten und nicht zuletzt das der Afghanen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, in der Hoffnung bald in einem besseren Land leben zu können.