In nahezu heroischer Art und Weise wurde am 05.Oktober 2014 von einem Selbstmordattentat einer kurdischen Kämpferin berichtet. Eine junge Frau soll sich nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA aus Verzweiflung selbst geopfert haben, um das Vorrücken der Terrormiliz ISIS zu stoppen. Der Anteil der Frauen, die über ihre eigenen „Frauenverteidigungseinheiten“ YPJ verfügen, an den etwa 45.000 bis 50.000 YPG-Kämpfern wird mit rund einem Drittel angegeben. Nach anderen Angaben sollen rund 40 Prozent der YPG-Mitglieder Frauen sein. Die YPG ist ein Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von den USA und der EU als Terrororganisation betrachtet wird, da sie seit drei Jahrzehnten auch einen bewaffneten Kampf gegen den NATO-Verbündeten Türkei führt. Manche sehen in der YPG die effektivste Kampftruppe gegen die militanten Islamisten, obwohl es wegen der engen Verbindung zur PKK an offener internationaler Unterstützung mangelt.
Wenn es in diesem Zusammenhang eine weiterführende Stufe, so möchte ich es einmal vorsichtig nennen, geben, so ist zu befürchten, dass sich noch mehr Frauen und zukünftig auch Männer in Selbstmordattentaten opfern werden. Eine Stilisierung dieser unglaublichen Handlung kann und darf nach meiner Ansicht nicht zugelassen werden. Selbstmordattentate sind ein modernes Phänomen, schließlich wird zu ihrer Durchführung ein neuzeitliches Mittel – Sprengstoff –benötigt, mitunter auch ein Fahr-, Flugzeug oder anderes Vehikel. Die mediale Wirkung und Verwertung spielt eine sehr wichtige Rolle. Der israelische Terrorismusforscher Yoram Schweitzer hat im Kontext der Selbstmordattentate im arabisch-israelischen Konflikt folgende Definition aufgestellt: „Ein Selbstmordattentat ist ein politisch motivierter, gewaltsamer Akt, der durch ein oder mehrere sich selbst bewusster Individuen durchgeführt wird, die aktiv und absichtlich ihren eigenen Tod verursachen, indem sie sich mit ihrem ausgewählten Ziel in die Luft sprengen. Der Tod des Ausführenden ist die Voraussetzung für den Erfolg der Mission“ (Yoram Schweitzer, 2001). Im Gegensatz zum „herkömmlichen“ Attentat besitzt das Selbstmordmordattentat einen höheren Symbolwert. Selbstmordattentäter oder Märtyrer? Dies ist eine der brisantesten Fragen im gegenwärtigen islamischen Diskurs über dieses Phänomen. Schon aus religiöser Sicht kommt dieser Unterscheidung große Bedeutung zu, denn grundsätzlich ist der Selbstmord im Islam verboten. Dies wird aus zwei Suren des Korans hergeleitet. So heißt es in Sure 2, 195: „… und stürzt euch nicht mit eigner Hand ins Verderben…“ und in Sure 4, 29: „… und begeht nicht Selbstmord…“. Ein Selbstmörder (arab. intihari) wird nach islamischer Tradition mit ewiger Verdammnis in der Hölle bestraft.
Dagegen ist der Märtyrer (arab. schahid oder mustaschhid) eine verehrte und respektierte Figur. Der bedeutendste Märtyrer ist derjenige, der für Gott (arab. fi sabil Allah) auf dem Schlachtfeld stirbt. Ihm wird direkter Zugang zum Paradies noch vor dem Tag des Jüngsten Gerichts gewährt. Ob ihm dort 72 Jungfrauen zur Seite stehen und daher ein sexuelles Motiv eine Rolle spielt, ist in der islamischen Tradition umstritten. Daneben existieren noch andere Märtyrer, z.B. die Opfer von Naturkatastrophen. Während auch diesen das Paradies versprochen ist, müssen sie noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts warten. Selbstmordattentäter werden oftmals als Märtyrer verehrt. Sie drehen Abschiedsvideos, tauchen auf Plakaten und einschlägigen Internetseiten auf. Um den Selbstmordattentäter herum hat sich eine Medienmaschine gruppiert, die das Ereignis mit allen modernen Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit ausschlachtet. Der Märtyrer soll nicht vergessen werden, seine Tat dient als Vorbild für die Lebenden.
Weder unter muslimischen Rechtsgelehrten noch in der islamischen Öffentlichkeit gibt es eine einhellige Meinung zu Selbstmordattentaten. Betrachtet man das arabische Meinungsbild – in Zeitungen, Internet und Fernsehen – so kann eher von einer generellen Zustimmung zu Selbstmordattentaten gesprochen werden, die jedoch stark kontextabhängig ist. In der theologischen Diskussion über Selbstmordattentate kursieren verschiedene Meinungen. Einige muslimische Rechtsgelehrte haben aus oben genannten Koranversen das absolute Verbot des Selbstmords abgeleitet. Ihrer Ansicht nach ist jeder, der mit der festen Absicht in den Kampf zieht zu sterben, ein Sünder.
Andere Rechtsgelehrte meinen, dass die Absicht differenziert bewertet werden muss. Falls die Absicht die Selbsttötung ist, so handelt es sich um Selbstmord. Ist die primäre Absicht jedoch die Tötung des Feindes, so ist es eine erlaubte Tat. Diese Erlaubnis wird aus der Pflicht zum Jihad abgeleitet. „Jihad“, wörtlich übersetzt „Bemühung“ oder „Streben“, taucht im Islam als doppeldeutiges Konzept auf. Der „große Jihad“ bezeichnet das Streben eines jeden Muslims nach einem guten und gottgefälligen Leben. Der „kleine Jihad“ ist hingegen als Verteidigungskrieg gegen nicht-muslimische Eindringlinge zu verstehen. In der klassischen Rechtstheorie wurde daraus ein komplexes Regelwerk von erlaubten und verbotenen Kriegshandlungen und –zielen entworfen. In der Tradition islamistischer Denker hat sich der Jihad als Pflicht zum Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus und schließlich das gewaltsame Vorgehen gegen alles „Unislamische“ durchgesetzt.
Neben den Interpretationen von Rechtsgelehrten spielen auch die öffentliche Meinung und staatliche Positionen eine wichtige Rolle. Während die Anschläge vom 11. September 2001 in der islamischen öffentlichen Meinung und seitens der meisten staatlichen Führungen, zumindest bis zum amerikanischen Einmarsch im Irak, weitgehend auf Ablehnung gestoßen sind, werden Anschläge – ob konventionell oder als Selbstmord – im israelisch-palästinensischen Konflikt und im Irak zumeist gutgeheißen. Aus islamischer Sicht handelt es sich bei diesen Konflikten um Abwehrkämpfe – Jihad im Sinne einer Verteidigung von muslimischen Gebieten – in denen das Selbstmordattentat angesichts der militärischen Überlegenheit des Gegners erlaubt ist.
Wird also auch in Zukunft die Bereitschaft steigen, sich selbst zu opfern? Wenn es angesichts der klaren Aussagen im Koran verboten ist sich selbst zu opfern, welcher Argumentation folgen dann die Bereitwilligen? Ist es also reine Verzweiflung, aus Angst das „eigene Volk“ könne ohne diese Opferbereitschaft nicht weiter existieren? Vielleicht geben mir Muslime Antworten zu diesen Fragen und wir können offen darüber diskutieren.