Nachdem ich inzwischen viele Fragen gestellt bekommen habe, wie sich Deutschland gegenüber der Türkei verhalten soll und was der türkische Präsident Recep Erdoğan mit dem Kemalismus zu tun hat, will ich versuchen euch eine Antwort darauf zu geben. Wie so oft muss ich gestehen, dass es sich leider nicht in ein- bis zwei Sätzen erklären lässt und man hierzu auch weiter in die Vergangenheit schauen muss. Am 03. März 1924, also vor fast genau 93 Jahren erklärte die Große Türkische Nationalversammlung das bis dahin bestehende Kalifat als abgeschafft. Für diesen enormen Schritt des bis dato Osmanischen Reiches war Mustafa Kemal verantwortlich, der später auch als Atatürk bekannt wurde. In der Zeit der außen- und innenpolitischen Neuorientierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden panislamische Verbündete gesucht, deren politisches Interesse sich ebenfalls gegen die europäischen Herrschaftshäuser richteten. Ein Meilenstein im Nahen Osten, denn dieser Schritt bedeutete unweigerlich, sich aus dem bislang stark islamisch geprägten Kalifat zurückzuziehen. Die türkische Nationalität und Identität stand nunmehr im Vordergrund. Dieses Denken und die Haltung, sich politisch stärker im Sinne einer „türkischen Nation“ zu verstehen führte in den Jahren 1996/97 dazu, dass der damalige türkische Ministerpräsident ein Pendant zu den mächtigen G8-Staaten schaffte. Mecmettin Erbakan war der Gründer der islamischen D-8. Zu seinen islamischen Mitgliedsstaaten gehörten neben der Türkei, Ägypten, Iran, Nigeria, Pakistan, Indonesien, Bangladesh auch Malaysia an. Recep Erdoğan fühlte sich schon früh von diesem Gedanken Erbakans angezogen und sieht noch heute die „Nation frommer Türken“ international als bedroht an.
Die Verfassungsänderung könnte die Türkei zu einer konservativ-sunnitischen Republik werden lassen!
Recep Erdoğan hat seine innen- und außenpolitische Macht insofern manifestiert, dass viele Türken es als Pflicht ansehen, für die bevorstehende parlamentarische Abstimmung für das Program der AKP abzustimmen. Mit weitreichenden Folgen, wie es nun schon oft beschrieben wurde. Denn alle demokratischen Institutionen würden zwar weiterhin existieren, allerdings ihre Bedeutung auf politischer und konstitutioneller Basis verlieren. Innen- und bildungspolitisch nehmen die sunnitischen Inhalte an Bedeutung zu und werden auch im Erziehungssystem stärker manifestiert. Inzwischen wurde auch die Essenz des Dschihad an den streng- religiösen Imam-Hatip Schulen verstärkt, sowie die Theorie zur Evolution ausgesetzt. Was bleibt? Religiöser Fanatismus?
Der Bündnisfall der NATO- verzweifelter Akt oder knallhartes Kalkül?
Der Arabellion oder auch Arabischer Frühling veränderte die islamische Welt ab Dezember 2010. Zunächst im Norden Afrikas, in Tunesien, Marokko, Ägypten und Libyen, dann zuletzt auch in Syrien. Ungeachtet aller Ereignisse zeigte sich die Türkei wenig beeindruckt aller vorangegangenen Ereignisse. Der türkische Islam war bislang moderner und pluralistischer als überall sonst im Nahen Osten, und die Türkei hat sich mindestens seit der späten osmanischen Periode bemüht, den Islam mit einer Öffnung zum westlichem Lebensstil zu vereinen. Dies unterscheidet sie von den meisten anderen muslimischen Ländern des Nahen Ostens, und war hilfreich dabei, die scharfen Auseinandersetzungen sowie Spannung und Gewalt zu vermeiden, die die politische Modernisierung woanders in der Region mit sich brachte. Mit den ersten oppositionellen Protesten 2011 in Damaskus und anderen syrischen Städten eskalierte der Konflikt im türkischen Nachbarland. Mit Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 2012 flohen Millionen Menschen in die Nachbarländer Libanon, Jordanien, Türkei und in den Irak. Im Herbst 2012 forderte der türkische Präsident den sofortigen Rücktritt des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Kurz nach seinen außenpolitischen Forderungen fordert Recep Erdoğan die NATO zur Unterstützung auf, die türkische Grenze zu Syrien mit den PARTIOT-Systemen der Bundeswehr zu schützen. Der Vorwand lautete, dass syrische Raketen Ortschaften der Türkei in Grenznähe angriffen und zerstören würden. Belege dafür gibt es bis heute nicht.
Operation Active Fence – bündnispolitische Makulatur?
Unter der politischen Führung des deutschen Außenministeriums von Guido Westerwelle sollte es sich um eine rein defensive Maßnahme der Bundeswehr handeln. Diverse Vorkommnisse führten dann aber dazu, dass es zu politischen Verstimmungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei kam. Neben militärischen Verfehlungen der Türkei gegenüber den disziplinarischen Vorgesetzten der Bundeswehr im Einsatzland war die Spitze des Eisberges damit erlangt, dass selbst politische Vertreter des Bundestages der Zugang der Soldaten der Bundeswehr durch die politische Vertretung der Türkei verweigert wurden. Erste ernst zu nehmende kritische Stimmen schienen im türkischen Parlament zu verhallen. Am 15. August 2015 wurde offiziell bekannt gegeben, dass das Mandat am 31. Januar 2016 auslaufen und nicht verlängert werden soll. Der operative Einsatz der Bundeswehr endete am 15. Oktober 2015.
Der Fall Kobane
Die syrische Stadt Kobane ist die Hauptstadt des Distrikts Ain al-Arab im Gouvernement Aleppo auf syrischem Hoheitsgebiet. Die Stadt wird mit 54.681 Menschen überwiegend von Kurden bewohnt. In diesem Zusammenhang müssen wir uns als Leser noch einmal bewusst werden, dass der türkische Präsident Recep Erdoğan mit seiner Partei, der AKP einen harten Kampf gegen Kurden führt. Im Jahr 2014/15 vereinigten sich kurdische Einheiten aus Syrien und dem Irak zusammen, um gemeinsam für die Befreiung der mehrheitlich bewohnten kurdischen Stadt zu kämpfen. Erst nach langen Verhandlungen stimmte die türkische Regierung dem Vorhaben zu und erlaubte es den Kämpfern die Durchfahrt auf türkischem Hoheitsgebiet. Erdoğan gewann dadurch innenpolitsch an Stimmenzuwachs und konnte sich auch mit kurdischen Stimmen innerhalb des Parlaments bestätigt fühlen. Die Hoffnungen der Kurden im Land wurden daraufhin leider nicht bestätigt, denn sein Kampf gegen die PKK lässt er härter denn je führen. Um den Sturz von Assad herbeizuführen, unterstützte die Türkei syrische Oppositionsgruppen. Aber die in Ankara gehegte Erwartung, Assad werde binnen weniger Monate abzusetzen, hatte sich nicht erfüllt. Überdies erwies sich die Unterstützung der Assad-Feinde als zweischneidiges Schwert. So unterschätzte man in Ankara lange die Gefahr, die von der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) auch für die Türkei ausging. Das Land geriet immer tiefer in den Treibsand des Syrienkrieges. Der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe führte im November 2015 zum Bruch mit Moskau – mit katastrophalen Folgen für die türkische Wirtschaft und dem Tourismus.
Kriegsflüchtlinge als Druckmittel- Das politische Kalkül des kemalistischen Despoten
Im Jahr 2015 eskalierte in Deutschland und nahezu auf dem gesamten europäischen Boden die Flut der Kriegsflüchtlinge. Italien, Griechenland und die Türkei waren die Transitländer für Flüchtlinge aus den kriegsgeplagten Ländern Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea, Libyen und einigen anderen afrikanischen Ländern. Die europäische Union reagierte nach ihrer Ansicht „unverzüglich“, auch wenn schon Jahre zuvor bekannt war, dass es zu einer Eskalation kommen würde. Italien und Griechenland rückten als europäische Mitgliedsstaaten in den Fokus der Medien, die Türkei und der Libanon wurden lediglich als Randnotiz erwähnt. Jetzt schlägt die Gunst der Stunde für den türkischen Präsidenten Erdoğan. In Brüssel wurden unlängst die Beitrittsgespräche der Türkei zur EU auf Eis gelegt, bzw. enorm sanktioniert. Recep Erdoğan hat verstanden, dass die europäische Union am Nabel der Türkei hängt. Sie müssen reagieren, wollen sie nicht mit noch mehr unkontrollierten Flüchtlingsströmen belastet werden. Bislang seien in der Zeit ab 2014 167,3 Millionen Euro an die Türkei ausbezahlt worden, weitere Zahlungen zur Förderung demokratischer Werte werden seitens der EU in Brüssel „geprüft“. Dem türkischen Präsidenten wurden 4,45 Mrd. Euro zugesichert, welche er inzwischen sukzessive einfordert.
Putsch oder nicht Putsch, das ist hier die Frage
Wer steckt wirklich hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Laut der türkischen Regierung soll der muslimische Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Umsturzversuch verantwortlich gewesen sein, Beweise gibt es allerdings nicht. Weder der türkische Präsident, noch ranghohe Vertreter der Partei AKP und des Militärs, bzw. des Geheimdienstes können mit validen Beweisen der Putsch-Nacht aufwarten. Nach dem gescheiterten Militärputsch sollen mehr als 10.000 Personen verhaftet und mehrere Tausend Menschen in der Türkei ihren Job verloren haben. Erdoğan selbst nutzte den Versuch dazu, seine Macht auszuweiten, indem er mithilfe von Verfassungsänderungen selbst Verfassungs- und Regierungsmitglieder ernennen und Dekrete beschließen konnte. Außerdem sollen alle Kompetenzen des Premierministers auf ihn übertragen werden. Somit hatte Erdoğan durch den Putschversuch nicht nur einen Grund, zahlreiche seiner Gegner zu entlassen und mundtot zu machen, sondern auch, die Türkei in eine Präsidialrepublik umzubauen.
Download zu den aktuellen Zahlen zu Asyl in Deutschland